„Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen.
Denn der Ort an dem du stehst ist heilig“
2. Buch des Mose Kapitel 3,5
Da sitzt er direkt neben dem Weg, angelehnt an eine Steinsäule. Die Sandalen hat er ausgezogen. Seine Füße berühren den „heiligen Ort“ Als wolle er sich ausruhen, sich Zeit nehmen. Der Blick ist in die Ferne gerichtet, auf die grauen Gebäuden eines Gefängniskrankenhauses für Frauen und Männer unweit der METRO- Station Carandiru´ im Norden Sao Paulo‘s. Drei Leute sind auf dem Weg, der auf einen blauen Himmel mit schweren weißen Wolken zuläuft. Es scheint, als ob das Blau und das Grauweiß das Gesicht des Pilgers berühren, das unsichtbar bleibt. Spiegeln sich in Himmel und Wolken seine Hoffnungen und Ängste?
857 Frauen, brasilianische und ausländische Häftlinge – darunter acht deutsche - im Frauengefängnis „Penetenciária Feminina da Capital“, in der Avenida Zaki Narchi, 1369, trennen nur einhundert Meter von diesem Bild. Ihre Füße kennen keine warme Erde unter den Füßen. Sie schlafen auf nacktem Boden aus Beton, steigen Steintreppen auf und nieder, blicken auf Gitterstäbe, die sie hier festhalten. Wenn sie über ihre hohen gesicherten grauen Mauern blicken könnten, würde sich ihnen genau diese Szene bieten: Jeden Tag, jeden Nacht verweilt ein Pilger (peregrino) an diesem besonderen Ort auf den Steinstufen eines Wegkreuzes. Seit Jahren schon, als hielte ihn etwas hier - etwas Ungewöhnliches, Einzigartiges. Das ‚Heilige‘ scheint ihn nicht loszulassen.
Pilger sind vielseitige Wesen: ´Mal auf fremden Wegen, ´mal auf der Suche nach sich selbst, ´mal ausgerichtet auf ein gesetztes Ziel. Innehalten und nach Vorne schauen gehört zu ihrem Wesen dazu. Wie zu dem Wesen der Frauen im Gefängnis von Carandiru: Pilgerinnen auf ihrem ganz persönlichen jeweils einzigartigem Weg. Auch sie - Menschen an ‚heiligem Ort‘. Wie die Stelle in der Wüste, an der der ‚Heilige‘ dem Pilger Moses begegnete und ihn dazu aufrief, Menschen aus ihrer Gefangenschaft, aus dem Ort der Hilflosigkeit und Gewalt, in eine neue, gute, Zukunft zu führen.
Moses ging zu Pharao. Schließlich überzeugte er ihn, die Gefangenen ziehen zu lassen. Aber die Häftlinge trauten der Freiheit nicht. Sie hatten sich eingerichtet in der Ohnmacht, in dem Ertragen der Umstände. Sie hatten die Abhängigkeit, das Gewohnte, lieben gelernt. Die Trägheit der Fremdbestimmung hatte sie in ihren Bann geschlagen.
„Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen. Denn der Ort an dem du stehst ist heilig“. Gottes Gegenwart und Zuwendung überlässt den Ort der Ohnmacht, der Einsamkeit, der Gewalt und des erbarmungslosen Gesetzes, mit einem Wort ‚die Wüsten‘ menschlicher Existenz , nicht sich selbst. Gottes Liebe, Vergebung und Souveränität, seine ‚Heiligkeit‘, wenden sich Menschen an solchen Orten zu. So als wolle er sagen: Ich kann nicht anders: „Ihr seid mir heilig, denn ich bin heilig; ich kann und will mich nicht verleugnen. Ich muss ich selbst bleiben. Ihr liegt mir am Herzen. Ich bin unter euch“
Er ruft auf zum Innehalten. Er, der selbst ‚peregrino‘ ist, ruft auf den Weg - den Weg der Freiheit, der Risikobereitschaft und der neuen Offenheit für das eigene Leben. (WL)
Offizielle Infos zum PFC-Carandiru siehe hier: