Montag, 28. Juni 2010

Brief aus dem Gefängnis

"Die Realität sieht anders aus"

"Nicht jeder, der einmal im Gefängnis saß, ist ein Mörder… Doch, wenn man schon wegen kleiner Delikte im Gefängnis saß, wird man hinterher oft wie ein Schwerverbrecher behandelt oder als schlimmer Krimineller angesehen. Aber nicht, weil man eine Straftat begangen hat, sondern weil allein das Wort ‚Gefängnis‘ ausreicht, eine solche Reaktion hervorzurufen. Viele Mitmenschen verschließen die Augen und das macht es Gefangenen nach Absitzen der Strafe viel schwieriger, den Einstieg in das normale Leben zu schaffen. Es gibt zwar Anlaufstellen, die Hilfestellung bieten, doch die können die Meinung z.B. von einem Arbeitgeber nicht ändern.

Vorstellungsgespräch

Arbeitgeber: Was haben Sie die letzten Jahre gemacht?
Ex-Gefangener: Meine Strafe im Gefängnis abgesessen…
Arbeitgeber: Gut. Sie hören dann von mir.

Mit dem Job hat es nicht geklappt. Die Familie, die sich erniedrigt fühlt – das schreibe ich aus eigener persönlicher Erfahrung, ich bin eine Gefangene, die ihre Strafe z.Z. absitzt – kann sich der Wahrheit und der Wirklichkeit nicht öffnen, weil andere die Scheuklappe aufhaben. Eigene Familienmitglieder können nichts erzählen, Bekannte oder Nachbarn nichts sagen, sondern sie antworten: „Oh, die ist verreist“ oder „ Sie arbeitet zur Zeit im Ausland“. In Wirklichkeit sieht es anders aus; denn die Tochter, Schwester, Mutter oder Enkelin sitzt im Gefängnis. Das selbst ist nichts Schlechtes, dass man für seine Straftat Buße tut, so hat es Gott schon in der Bibel gehalten…

Ich persönlich wünschte jedoch, Menschen würden ihre Augen nicht verschließen. Denn es kann jeden selber treffen, ohne Absicht. Und dann ist die Realität auf einmal im eigenen Leben angekommen (wünsch‘ ich natürlich keinem)." nk

Die Autorin, zur Zeit inhaftiert in Sao Paulo, schreibt dazu: „Ich habe die Idee, dass die, die das hier  lesen, ihre eigene Meinung dazu abgeben können, da mich die interessiert.“

Mittwoch, 16. Juni 2010

"Woza Moya ..."



„Passionszeit“ ist im Gefängnis immer. Das scheint  der Sinn seiner Erfindung/Einrichtung und ihrer Durchsetzung durch die Gesellschaft. Rehabilitation, Hilfen zur Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschft werden klein geschrieben oder sind schlichtweg abwesend. Deswegen haben  Besuche, besonders für die ausländischen Gefangenen, einen hohen Stellenwert. Hier eine Momentaufnahme von einem Besuch in einem Frauengefängnis in Sao Paulo, in dem zur Zeit acht Frauen aus Deutschland ihre Haftstrafen absitzen, bezw. noch auf ihren Strafprozess und ihr Urteil warten.

„Jeder will hier ‚raus‘ – das Haupttema in jedem Gespräch, jeden Tag. Auch bei den 900 Frauen in Carandiru regiert die innere Einsamkeit in der überbelegten Haftanstalt. Kurz vor Ostern wollte ich mit Chormitgliedern unserer Kirchengemeinde dort für sieben deutschen Gefangene Osterlieder singen. Wir wollten Hoffnung auf Neuanfänge und Zusage des Nicht-Vergessens-Seins bringen. Doch, in den Regeln und in der Bürokratie gibt es kein Ostern. Nicht vorgesehen.  Kirchen, die nicht öffentlich bei den staatlichen Gefängnisbehörden akkreditiert sind, dürfen in den Gefängnissen keine Aktivitäten entfalten. Aber OSTERN hatte die Frauen nicht vergessen. Bei einem Routinebesuch wenige Tage vor Muttertag bittet die Gefängnisleitung, ein Team von Frauen, zum Gespräch. „Können Sie mit Ihrem Chor im Gefängnis für alle Frauen (über 800) singen, in jedem der vier Gefangenenblocks jeweils 15 Minuten; 14 Sänger sind erlaubt?“ Und ob wir können! Die Reaktion der Chormitglieder war zuerst gemischt, Zurückhaltung wechselte sich später ab mit einem spontanem „Ja, da mache ich mit“. Dann wollte jeder. Aber nur 14 durften. Die Angst vor dem Unbekannten (Gefängnisse in Brasilien sind berüchtigt), den Insassen und davor, das alles seelisch verkraften zu können, weicht schliesslich der Neugier der Nächstenliebe.

Auf zwei langen Bänken entlang den Wänden eines weißgestrichenen Raumes nehmen nach und nach elf junge Mütter mit ihren Neugeborenen im Arm Platz während wir leise eines unserer Lieder anstimmen. Wir sind in der Gefängnisklinik. Kurze Gespräche entwickeln sich, Umarmungen, Berührungen. Eine Frau kommt aus Bolivien, eine andere aus Südafrika, alle anderen sind Brasilianerinnen. Die Kinder fest im Arm haltend, weiß jede: ‚Nach sechs Monaten muss ich mich von meinem Kind trennen.‘ Volks- und religiöse Lieder wechseln einander ab. Wir haben für alle 800 einen Liederzettel mitgebracht. Darunter auch ein Zululied „Woza Moya oyiNgcwele“(Komm. Heiliger Geist). Die Frauen singen mit. Oder haben sie mehr mitgeweint wie einige der Chormitglieder - die meisten übrigens Männer heute. Die Südafrikanerin erhebt sich mit Kind im Arm und fängt an, ein Lied , das sie kennt, solo auf Zulu, zu singen. Mehr Betroffenheit ringsum. Nur schwer trennen wir uns.

Unsere Begleiterin aus der Leitung, hält sich im Hintergrund, räumt alle administrativen Hindernisse aus dem Weg, unter ihrem Wort drehen sich die Eisenschlüssel in den Gittertüren. Wir sind in einem der Wohntrakte der inhaftierten Frauen. Wir bleiben im Erdgeschoß, in der Etage darüber befinden sich die Zellen. Es ist Muttertag. Familien mit Kindern besuchen ihre Mütter Geschwister und Ehepartner. Die Ausländerinnen unter ihnen bleiben ohne Familienbesuch. Wir sind heute ihre einzige Abwechslung. Alle singen mit, manche kräftig, manche leise. Immer wieder laden wir die Wachmannschaften vor den Gittern ein, mitzusingen. Singen habe ich sie nicht gehört. Aber für den Besuch danken sie.

Im letzten Block wohnen nur Ausländerinnen (300). Darunter auch fünf der inzwischen auf acht angewachsenen Deutschen. Freude bricht aus, bei manchen sogar überschwängliche, bricht aus als wir singen. Einige Afrikanerinnen tanzen. Ich sage ein paar Worte auf Englisch: “Jetzt sitzt ihr hier fest. Die Zeit kommt, wenn ihr frei sein werdet, vergesst das nicht. Auch Pilgerinnen müssen sich manchmal ausruhen und hinsetzen, nachdenken und dann weitergehen. Jetzt sitzt ihr an diesem Ort, nicht um für immer festgehalten zu werden in eurem Leben. Um euch auf eure Freiheit vorzubereiten, darum seid ihr hier. Und die Zeit kommt gewiß!“ Einige Satzstücke spreche ich spontan auf Zulu. Typische Zulujubelschreie folgen unwillkürlich. Fünf Deutsche wohnen in diesem Block. Zwei der Chormitglieder haben Briefkontakt mit deutschen Frauen. Sie treffen sich zum ersten Mal - mehr Tränen, mehr Umarmungen. Ein neuer Briefkontakt entsteht. Dank an unsere Begleiterin. Mit dem Kleinbus geht es zurück nach Santo Amaro. Die nachhängenden Gedanken vom Muttertag im Frauengefängnis Carandiru mischen sich mit denen an die eigene Familie, die schon sehnsüchtig auf ihre Männer wartet.